Mitte – Eigentlich eine Laufbahn, auf die man stolz sein kann: Abitur, Wehrdienst, Ausbildung, Studium. Verheiratet, Doppelhaushälfte im Norden, zwei Töchter. Dann der Tiefe Fall: Alkoholabhängigkeit, Obdachlosigkeit, Tumor.
Gestern verhandelte das Hamburger Amtsgericht einen Fall, der eigentlich schon vor zwei Wochen hätte verhandelt werden sollen: Der 61-jährige Diplom-Betriebswirt Karsten O. erschien zu seinem ersten Termin nicht. Die Richterin wollte ihn daher zum gestrigen Prozess eigentlich von der Polizei um 4 Uhr morgens abholen und solange in eine Zelle stecken lassen, bis der Prozess beginnt.
Da der ehemalige Controller der Hamburg Freezers sich allerdings kurz nach dem ersten, geplatzten, Termin meldete und offen und ehrlich zugab, den Termin „verpennt“ zu haben, verzichtete die Richterin auf diese Maßnahme. Sie sollte nicht enttäuscht werden, der Angeklagte O. erschien gestern pünktlich zu seinem zweiten Termin.
Angeklagt war 14 Mal Betrug: obwohl er bereits wegen 21-fachen Betruges vorbestraft war, hielt ihn das nicht davon ab, seine Masche fortzusetzen – immer wieder suchte er Restaurants und Bars auf, aß und trank, und wenn es ans Bezahlen ging, folgten immer die gleichen Ausreden: Jacke mit der Brieftasche vergessen, EC-Karte würde nicht funktionieren, oder er wolle am nächsten Tag bezahlen kommen. Besonders dreist: gelegentlich lud er Freunde ein.
Das folgende Prozedere war dann immer das gleiche: die Polizei kam, musste die Identität feststellen und Anzeigen aufnehmen. Mal zeigte sich der Angeklagte höflich und kultiviert, andere Male jedoch absolut dreist, höhnisch und verächtich. Alkoholisiert war er dabei jedes Mal, teilweise bis weit über 2 Promille. Von der Polizei darauf hingewiesen, dass er den Betrieben damit ja auch Schaden zufüge, erwiderte er nur, „ihm kommen die Tränen“, es sei ihm scheißegal.
Der Angeklagte leidet nach eigener Aussage unter einer bipolaren Störung und kann sich im Nachgang sein Verhalten selber nicht erklären. Dazu käme eine Alkoholabhängigkeit. 2018 trennte er sich von seiner Frau, wird obdachlos, zieht in einen Park. Er trinkt bereits seit 40 Jahren Alkohol, mindestens fünf bis sechs Bier täglich.
In letzter Zeit dürfte es allerdings deutlich mehr gewesen sein, die von der Polizei ermittelten Atemalkoholwerte sprechen für sich: nachmittags um 16:20 Uhr kommen da schonmal 1,93 Promille zustande.
Als bei ihm 2019 ein Hirntumor entdeckt wird, sieht er sein Leben schon beendet. Der gutartige Tumor konnte jedoch im UKE entfernt werden, was ihm offensichtlich neuen Lebensmut gab: seit einem halben Jahr wurde er nicht mehr straffällig, hat seinen Alkoholkomsum stark eingeschränkt und hat bei Fördern & Wohnen ein Zimmer bekommen. Seinen beiden Töchtern zahlt er trotz seiner Schicksalsschläge monatlich je 200 Euro Unterhalt.
Obwohl er sich selber nur noch an einige Taten erinnern konnte, räumte er die Vorwürfe ein und zeigte sich bei den Taten, an die er sich erinnern konnte, auch geständig. Teilweise musste er über sein Verhalten, das die Polizei regelmäßig in den Anzeigen dokumentierte, selber den Kopf schütteln. „Unter normalen Umständen würde ich niemals so handeln, es ist mir selber unbegreiflich“, kommentierte er einige der verlesenen Anzeigen.
Der Richterin entging allerdings auch nicht, dass der Angeklagte trotz seiner bipolaren Störung und des enormen Alkoholkomsums mit einer gewissen Raffinesse vorging: er suchte immer wieder neue Lokale auf, versuchte seine Masche nie zwei Mal im gleichen Laden. Das ging zwar nicht immer gut, einige Male wurde er von Betriebsleitern in anderen Läden erkannt und das Personal gewarnt. Es zeigt aber auch, dass eine gewisse Taktik hinter seiner Masche steckte.
In seinem letzten Wort bedankte sich der Angeklagte bei der Richterin und Staatsanwältin für das aus seiner Sicht faire Vefahren und die „angemessene“ Behandlung.
Schlußendlich folgte die Richterin dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verurteile den Mann zu zwei mal sechs Monaten Haft. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, gleichzeitig wurde aber der Einzug von 618,80 Euro angeordnet. Das ist der Betrag, um den er die Lokale geprellt hat.
Man hat in der Verhandlung einen Mann kennengelernt, der es in seinem Leben sicher nicht leicht hatte. Aber auch eine Richterin, die fair, verständlich und nachvollziehbar geurteilt hat. Es bleibt zu wünschen, dass der Angeklagte seine positive Entwicklung fortsetzt.